Damals, als ein nicht mehr ganz nüchterner Dorfschulmeister die Orgel spielte
von Karlheinz Lichau
Wie heftig mag dieser Vorfall die Gemüter in den Dörfern unseres Kirchspiels erregt haben! So heftig, dass sich der damalige Pfarrer Wilhelm Sigismund Stammler bemüßigt sah, dieses für die damalige Zeit höchst ungehörige und das recht aufmüpfige Verhalten eines einfachen Dorfschulmeisters aufzeigende Vorkommnis dem Riedeselischen Consistorium zu berichten, um einer hochnotpeinlichen Untersuchung seitens der Regierung des damaligen Riedesellandes zuvorzukommen.
Was war geschehen? Sie erinnern sich sicherlich. Im Jahre 1722 hatten die Ruppertenröder dem damaligen Lehrer von Ober-Ohmen, dem Präzeptor Johann Eckhard Hoffmann, den Zopf abgeschnitten, ein dreieckiges Stück aus seinem Gehrock herausgeschnitten und ihm schließlich die Absätze seiner Schuhe abgerissen. Dies war wohl nur deshalb möglich gewesen, weil er nicht ganz nüchtern gewesen und so zur Zielscheibe für allerhand Spott und Schabernack geworden war. Diese seine Leidenschaft, gerne einen über den Durst zu heben, war ihm bereits um das Jahr1715 zum Verhängnis geworden.
Doch lassen wir nun den damaligen Pfarrer, Magister Wilhelm Sigismund Stammler, selbst berichten:
Hochedle und gestrenge, hochwürdige und in Gott andächtige, wie auch hochgelehrte, des hochfreiherrlichen Riedeselischen Consistorii hochverordnete Herren Räte, insbesondere hochgeehrte und hochgeneigte Herren und Gönner!
Es hat der Herr Präzeptor Hoffmann allhier zu Ober-Ohmen im vergangenen Herbst Dominica 18 post Trinitatis (= am 18. Sonntag nach Trinitatis) in der Kirche, als er den „großen christlichen Glauben“ auf der Orgel gespielt hat, in dem zweiten Vers drei Reihen oder Zeilen, nämlich diese Worte, „von Maria, der Jungfrauen, ist ein wahrer Mensch geboren durch den heiligen Geist im Glauben“, ausgelassen hat. Dadurch ist dann die ganze christliche Gemeinde, indem sie in der richtigen Ordnung fortgefahren ist, der Herr Präzeptor aber die Melodie ausgelassen und die folgenden Worte „für uns, die wir darin verloren“ auf der Orgel fortgespielt hat, durch die erwachsene Disharmonie in eine solche Konfusion geraten, dass schließlich die ganze christliche Gemeinde, weil er auf der Orgel nicht nachgeben wollte und sich nicht zurechtfinden konnte, zu singen aufhören musste, da er dann den zweiten Vers vollends ganz allein auf der Orgel weitergespielt hat.
Als ich ihm aber diesen Fehler in Anwesenheit des Kirchenvorstandes vorgehalten habe, hat er es anfänglich ganz und gar geleugnet und mit Lügen sich weiß brennen und die Sache auf diese Weise beschönigen wollen. Nachdem aber ich und die Herren Kirchenvorsteher ihm zugeredet haben, in sich zu gehen und daran zu denken, die Sache wäre auf solche Art ganz und gar nicht zu entschuldigen, denn die Sache sei ganz und gar zu offensichtlich, zumal die ganze Gemeinde gegen ihn zeugen würde, hat er geschwind eine andere List erdacht. Er sagte aus, ja, er müsse es gestehen, er hätte den Fehler begangen, aber er wäre doch unschuldig, denn das Notenbuch wäre ihm herabgefallen. Dieses war abermals eine grobe Lüge, denn alle Musikanten an der Orgel wissen, dass er niemals ein Notenbuch gebraucht, sondern alle Choräle und Gesänge auswendig und ohne ein Notenbuch auf der Orgel spielt. Außerdem wollte er die Hauptursache dieser Handlungsweise, die diesen Fehler verursacht haben könnte, nicht bekennen. Ich will aus christlicher Liebe, auch um Gotteswillen nicht hoffen, dass er diesen Fehler mit Fleiß getan oder begangen habe. Ob aber ihm von der Unter-Seibertenröder Kirmes her, welche am Heiligen Michaelis-Fest, welches auf den Samstag vorher gefallen war, darauf er zugegen war, und des Abends spät nach Hause gekommen war, der Kopf noch verwirrt war, und ob er wohl gar in der Kirche während des Gesangs schon wieder an die Kirmes gedacht hat, wie er dann gleich nach dem Gottesdienst bald wieder dahin als Gast gegangen ist, oder aber ob er sonst andere umherschweifende Gedanken damals während des Gesangs gehabt hat, welche den Fehler verursacht haben. Er wird es wohl am besten wissen.
Weil er nun die Ursache vor dem Kirchenvorstand nicht offenbaren wollte, er aber dennoch den begangenen Fehler, ob er wollte oder nicht, gestehen musste, haben schließlich die Herren Kirchenvorsteher von ihm begehrt und verlangt, er sollte den begangenen Fehler in Demut erkennen, sich bei ihnen als den Vertretern der Kirche entschuldigen und sich in Zukunft besser vorsehen und hüten, dass er dergleichen nicht mehr tue. Anfangs hat er sich sehr geweigert, dem nachzukommen. Doch auf vieles Zureden hat er schließlich eingewilligt und die Entschuldigung abgeleistet.
Aber es hat der Herr Präzeptor Hoffmann am letzten Fest der Himmelfahrt Christi in unserer Kirche schon wieder einen Fehler begangen. Ich habe ihm angesagt, er solle singen den Himmelfahrts-Gesang „Als vierzig Tag nach Ostern warn“, in der Melodie oder Weise „Erschienen ist der herrlich Tag“. Er hat den Gesang „Als vierzig Tag nach Ostern warn“, mit der ganzen christlichen Gemeinde angefangen und angestimmt. Die Gemeinde hat die rechte Melodie oder Weise beibehalten, er aber ist bald auf die Melodie des Gesangs „Auf diesen Tag bedenken wir, dass Christ gen Himmel gefahren“ umgeschwenkt. Weil nun diese Melodie auf das angefangene Lied nicht passte, er aber dennoch mit seiner Melodie auf der Orgel beständig fortfuhr, ist die ganze christliche Gemeinde durch solche Disharmonie abermals in eine solche Konfusion gebracht worden, daran einzig und allein er schuld war, dass sie endlich ganz hat stillschweigen und zu singen aufhören müssen. Er aber hat den angefangenen Gesang „Als vierzig Tag nach Ostern warn“ ganz und gar aufgegeben und von dem Lied „Auf diesen Tag bedenken wir“ zwei Verse mit der Orgel ganz allein gespielt. Da dann niemand in der Kirche wusste, was es sein sollte, bis er endlich mit der Orgel aufhörte und den dritten Vers zu singen anfing, worauf dann etliche wenige, welche bald merkten, dass es ein großes Versehen und ihnen doch auch dieses Lied, darauf er gefallen, bekannt war, mit ihm gesungen haben. Die meisten aber haben sich nicht hineinfinden können, sondern sie mussten den Gesang mit Stillschweigen vorübergehen lassen. Auf diese Weise hat er den Gesang an diesem Tag, bedenken wir, vollends ausgeführt.
Weil nun dazumal viele fremde Seelen in unserer Kirche durch den vergangenen Fehler gesehen worden sind, haben die Herren Kirchenvorsteher einmütig beschlossen und insbesondere mir aufgetragen, diesen Fall an das Hochfreiherrliche Riedeselische Consistorium zu berichten. Damit aber dieses gänzlich ihre Meinung und ihr Willen sei und nicht mir als persönliche Angriffe aufgenommen und angerechnet werden, habe ich ihnen dieses Schreiben vorgelesen. Dass dies alles die pure lautere Wahrheit ist und die Sache in der Tat sich so zugetragen hat, haben sie mit ihrer eigenen Unterschrift bestätigen wollen. Daher habe ich ihnen die Gunst erwiesen und nach ihrer gegebenen Anweisung solches vermöge meines Amtes den Hochverordneten Herren Consistorialräten habe vermelden sollen und wollen, als der ich nach göttlicher Wohlempfehlung verharre.
Dero sämtlichen Herren Consistorialräten
untertänigster Magister Stamler
Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht…
oder
Wie man vor 170 Jahren mit kleinen Dieben verfuhr
von Karlheinz Lichau, Ober-Ohmen
Manchem Leser mag es befremdlich erscheinen, dass sich der Pfarrer und der Schulvorstand von Ober-Ohmen mit von einem Schüler außerhalb der Schule begangenen Diebstahlsdelikten befasste. Doch dem Pfarrer war damals auch die örtliche Schulaufsicht übertragen, und er hatte sich zusammen mit Lehrer, Kirchen- und Schulvorstand um die Erfüllung der „Kirchenzucht“ zu bemühen. Diese umfasste unter anderem die ordentliche Erziehung der Schüler, auch außerhalb der Schule. Von den vielen Akten, die sich mit diesem Aufgabenbereich befassen, sei die folgende ausführlich dargestellt.
Geschehen Ober-Ohmen, den 5. April 1835
1. Erschien Samuel Krebs und gab bei dem hiesigen Schulvorstand zu Protokoll, dass Johann Caspar Weitert, Sohn von Andreas Weitert, 12 Jahre alt, ihm am 1. des Monats aus einem Schrank in der Wohnstube einen Hessenbatzen gestohlen habe, dieses Delikt habe er auch gestanden und ihm den entwendeten Betrag sogleich zurück erstattet.
Auf die Frage, ob Kläger dem Beklagten keinen früheren Diebstahl zur Last legen könne, erklärt derselbe, er habe früher einige Male Geld vermisst und dass er den Beklagten im Verdacht gehabt habe, dass er ihm aber nichts beweisen könne.
2. Johann Maurer, Bernhard Maurers Sohn, erklärt, er habe den Beklagten mit einem 18-Kreuzer-Stück spielen gesehen, während andere zu dem Spiel nur Knöpfe gebraucht hätten.
Kaspar Horst bestätigt dies und fügt hinzu, dass der Beklagte ihm nebst zwei anderen Knaben, nämlich Anton Jäger und Konrad Schmidt bei Pächter Horst Bier und Milchbrot gekauft und bezahlt habe.
Elisabetha Horst, Elisabetha Pusch, Anna Maria Becht und Juliana Horst erzählen, der Beklagte habe ihnen auf Fastnacht in Pächter Horsts Haus Bier, Branntwein und Milchbrot gekauft. Die erstere erzählt noch ferner, der Beklagte habe an einem Sonntag den Conrad Momberger betrunken gemacht und so weiter.
Pächter Horsts Ehefrau wurde über das Vorstehende befragt und erklärt, dass Beklagter mehrmals, fast jeden Sonntag, bei ihr Bier und Branntwein gekauft habe, einmal auch ein 18-Kreuzer Stück habe erscheinen lassen. Jedoch habe der Beklagte nicht selbst ihr das Geld gegeben, sondern es immer durch andere Kinder überschickt.
Der Beklagte erklärte hierauf auf Befragen: Es sei wahr, dem Krebs den Hessenbatzen gestohlen zu haben, doch habe er sonst nie etwas gestohlen, es sei dieses das erste Mal gewesen. Auf die Frage, wo er das fragliche 18-Kreuzer-Stück herhabe, antwortete er nach langem Zaudern, er und seine Mutter seien in Stumpertenrod am Sonnabend vor 14 Tagen gewesen, und er habe da zwei 18-Kreuzer-Stücke und ein 9-Kreuzer-Stück gefunden. Das 9-Kreuzer Stück habe er seiner Mutter gegeben und das andere 18-Kreuzer-Stück verloren.
Auf die Frage, wo er die Fastnacht das Geld herbekommen habe, antwortete er, solches von seinem Bruder bekommen zu haben. Auf mehrfaches Hin- und Herfragen gestand er, seinem Bruder Geld gestohlen zu haben, doch habe er ihm solches wieder gegeben.
Er leugnete ferner, den Mädchen mehr als zweimal Bier und Branntwein und dergleichen gekauft zu haben, besonders habe er ihnen am Begräbnistag von Otto Schmidt nichts gekauft.
Hierauf wurde der Vater des Beklagten gerufen und dieser erklärte:
Auf die Frage, ob er wüsste, dass seine Frau von ihrem Sohn ein 9-Kreuzer-Stück erhalten habe, erklärte er, er wisse nichts davon. Auf die Frage, wann seine Frau mit ihrem Sohn in Stumpertenrod gewesen sei, erwiderte er: Letzten Mittwoch. Weil er angeblich weiter nichts von allem gewusst habe, wurde er entlassen.
Die Mutter des Beklagten gab vor, nicht wohl zu sein und erschien daher auch nicht auf geschehene Vorladung. Der Schulvorstand Otterbein begab sich daher in ihre Wohnung und hörte hier Folgendes von ihr:
Sie sei verflossene Woche, den Mittwoch oder Donnerstag, in Stumpertenrod gewesen und habe da bei ihrem Sohn Geld entdeckt, von dem er vorgegeben habe, es bei einem Hause gefunden zu haben. Er habe ihr ein Hessen-6-Kreuzer-Stück davon gegeben und sei dieses sein Geld all gewesen. Doch gab sie später noch an, er habe noch einen Hessenbatzen behalten.
Der Beklagte wird nun wieder befragt, zuerst, wann er in Stumpertenrod gewesen sei: Am vorigen Mittwoch. Wo er das 18-Kreuzer-Stück herhabe: Er habe es in Krebsen Wohnung gestohlen, auch habe er da noch eines genommen. Dies sei heute vor 14 Tagen gewesen. Ein paar Tage darauf habe er ein 9-Kreuzer-Stück eben daselbst unterm Schrank gefunden und behalten. Auf die Frage, warum er dieses nicht schon früher gestanden habe, antwortete er, seine Mutter habe ihn gelehrt und anbefohlen, weiter nichts als den ersten Batzen zu gestehen. Als er ihr das 9-Kreuzer Stück gegeben habe, habe er ihr gesagt, solches in des Krebsen Haus gefunden zu haben. Auf mehrfaches Hin- und Herfragen und nachdem er das bei ihm bemerkte Geld nicht mehr aufweisen konnte, erklärte er, noch einmal einen Hessenbatzen bei Krebs gestohlen zu haben. Dann gestand er, abermals im Winter ein Hessen-6-Kreuzer-Stück dem Krebs genommen zu haben, dann damals auch einen Hessenbatzen. Auf die Frage, ob er sonst noch etwas zu gestehen habe, antwortete er: Nichts. Später, als in ihn gedrungen wurde, zu gestehen, sagte er, dem Herrn Schmidt ein Messer gestohlen zu haben. Auf die Frage, wo er das Geld hingebracht habe, antwortete er, seine Mutter habe es ihm gewöhnlich genommen, und auf die Frage, ob er seiner Mutter gesagt habe, wie er zu dem Geld gekommen sei, antwortete er nach einigem Zaudern: Ja. Ob sein Vater von diesen Diebstählen gewusst: Immer standhaft nein. Derselbe habe ihn sogar wegen dem bei Krebs gestohlenen Hessenbatzen abgestraft, von den übrigen habe er nichts gewusst.
Die vorstehende Angelegenheit muss wohl an die vorgesetzte Behörde berichtet worden sein, denn das Großherzoglich Hessische Freiherrlich Riedeselische Consistorium zu Lauterbach sandte am 23. April 1835 nachstehen Brief an den Großherzoglich Hessischen Freyherrlich Riedeselischen Pfarrer Zinser in Ober-Ohmen:
Betreff: Untersuchung mehrerer durch den Schüler Kaspar Weitert in Ober-Ohmen verübten Diebstähle
Das Consistorium hält es für das Sachdienlichste, dass Kaspar Weitert in Gegenwart eines Mitglieds des Schulvorstandes durch den Gemeindediener körperlich gezüchtigt, die pflichtvergessene Mutter aber vor den Schulvorstand geladen, ihr das Unverantwortliche ihres Benehmens zu Gemüte geführt und verwiesen und bedeutet werde, dass bei erster Veranlassung der Fall zur Kenntnis des Landgerichts gebracht und um strenge Ahndung gebeten werden würde.
Der Consistoriumssekretär
Unterschrift